“Die Verantwortlichen in Deutschland scheinen sich abzuriegeln von internationalen Entwicklungen in Forschung und Wissenschaft zur Mobilfunk-Frage. Es ist ärgerlich …” Ein Interview mit dem Saarbrücker Biowissenschaftler Ulrich Warnke zur gegenwärtigen Forschungslage an der Jahreswende 2016 / 2017, besonders zur Bedeutung der neuen US Regierungsstudie im National Toxicology Program (NTP).

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Stellungnahme der Kompetenzinitiative zur aktuellen Situation: Gegen Irrwege der Mobilfunkpolitik – für gesunden Fortschritt  >>>

Ulrich, Du bist seit Jahrzehnten in der lebenswissenschaftlichen Forschung tätig und beobachtest die Entwicklungen auf dem Gebiet Mobilfunk schon lange. Wie schätzt Du die derzeitige Diskussionslage in Deutschland ein?

Die Verantwortlichen in Deutschland scheinen sich abzuriegeln von internationalen Entwicklungen in Forschung und Wissenschaft zur Mobilfunk-Frage. Es ist ärgerlich. Das Bundesamt für Strahlenschutz verlautet weiterhin, dass nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand diefestgelegten Höchstwerte ausreichten, um vor Gesundheitsrisiken zu schützen. Alle Hinweise zum Gefährdungspotential des Mobil- und Kommunikationsfunks wurden permanent abgeschmettert mit der lakonischen Behauptung, es gäbe keine belastbaren Beweise dafür.

Welche Entwicklungen der internationalen Forschung erscheinen Dir im gerade abgelaufenen Jahr 2016 bemerkenswert?

Ganz klar: An vorderster Stelle ein Forschungsereignis in den USA im letzten Sommer. Über die Ergebnisse der US-Studie Wirkungen der Mobilfunkstrahlung auf Ratten und Mäuse des U.S. National Toxicology Program (NTP) wurde erstmals am 8. Juni 2016 bei der BIOEM2016 in Ghent, Belgien öffentlich berichtet. Das Datum ist wichtig für die Frage, ab wann Geschädigten Regressansprüche zustehen, denn die Studie ist die erste, die als Ergebnis einen belastbaren Beweis führt für einen Kausalzusammenhang von Mobilfunkstrahlung und Krebspotential bei komplexen Organismen.

Mobilfunk-Forschung ist häufig für Laien schwer verständlich und wenig nachvollziehbar. Lassen sich die Anlage und die Ergebnisse der NTP-Studie in allgemeinverständlichen Worten zusammenfassen?

Die NTP-Studie hatte ein Kostenvolumen von 25 Millionen USD. Zum Vergleich: Der Etat des Deutschen Mobilfunk Forschungsprogramms lag bei 15 Millionen Euro und musste mehr als 50 Einzelprojekte abdecken. Eindeutig erfüllt die NTP-Studie höchste wissenschaftliche Ansprüche. Dies ist die beste Tierstudie, die mit den bestehenden technischen und finanziellen Einschränkungen gemacht werden kann, um zu versuchen, Krebs beim Menschen durch Mobilfunkstrahlung zu verstehen.

Ron Melnick, der jetzt pensionierte frühere Leiter des Teams, das die NTP-Studie konzipierte, räumte ein, dass NTP die Hypothese geprüft habe, laut der Handystrahlung keine gesundheitlichen Auswirkungen haben könne, und diese Hypothese sei jetzt widerlegt worden. Weiterhin betonte Melnick, dass nach umfangreichen Überprüfungen der Untersuchungen Einigkeit darüber bestünde, dass es eine Krebs auslösende Wirkung gibt.

Es ging in der Studie um die Langzeitexposition von 2500 Ratten und Mäusen gegenüber der Mobilfunkstrahlung. Die Ratten wurden mit 900 Megahertz-Frequenzen im GSM sowie CDMA-Standard Ganzkörper-bestrahlt, die Mäuse mit 1900 Megahertz. Die Ratten wurden, beginnend im Uterus der trächtigen Muttertiere und nach der Geburt zwei Jahre lang, der CDMA- oder GMS-Mobilfunkstrahlung ausgesetzt. Als Ergebnis zeigte sich, dass die Mobilfunkstrahlung über ein krebserzeugendes Potenzial verfügt. Unter den Testratten bekamen zwei bis drei Prozent der Männchen maligne Gliome im Gehirn und gutartige Schwannome im Herzen. Bei den Tieren, die der stärksten Strahlung ausgesetzt waren, fanden sich auch die meisten Tumore. In Kontrollgruppen, die keinerlei Strahlung ausgesetzt wurden, kamen beide Arten von Tumoren nicht vor. Die der Strahlung ausgesetzten Weibchen hatten ein um fast 75% geringeres Krebsgeschehen als die Männchen, aber zusätzlich gegenüber der Kontrolle eine etwas geringere Geburtenrate.

Außerdem müssen die in der Verumgruppe gefundenen Hyperplasien einbezogen werden, denn diese bezeichnen präkanzeröse Veränderungen der Gewebe. Wäre die Laufzeit des Versuchs länger gewesen, dann hätte sich aus der Hyperplasie heraus die Tumorhäufigkeit weiter erhöht. Zwischen CDMA- und GSM-Frequenzmodulationen gab es keine signifikanten Unterschiede.

Wichtig bei alldem: Die Studie wurde so konzipiert, dass sichergestellt wurde, dass die Körpertemperatur der bestrahlten Ratten um weniger als 1º C anstieg. Kommentatoren der Studie heben zu Recht hervor, dass die Expositionen in einer solchen Weise stattfanden, dass eine Wirkung durch Erwärmung ausgeschlossen werden könne, und diejenigen geirrt hätten, die behaupten, dass solche Ergebnisse nicht möglich seien.

Im Übrigen liegen die Ergebnisse der NPT-Studie im Einklang mit anderen Tierstudien, die bereits ein erhöhtes Gesundheitsrisiko bei exponierten oder ko-exponierten Tieren festgestellt hatten (z.B. Chou et al.; Tillman et al.; Lerchls Gruppe). Die Wissenschaftler der NPT-Studie fanden die Ergebnisse so brisant, dass sie unverzüglich schon vor der Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift mit dem geprüften Ergebnis an die Öffentlichkeit gingen. Es erfordere, so die Wissenschaftler, von der US-Regierung eine Aufklärungs- und Vorsorgepolitik.

Es gab allerdings gleich auch Gegenwind?

Natürlich. Kein Wunder angesichts der Bedeutung der Studie. Die New York Times spielte die Erkenntnisse aus der Studie herunter. Dieses Verhalten ist typisch, wenn man die Besitzverhältnisse der New York Times betrachtet: Einer der größten Aktionäre ist der milliardenschwere Telekommunikationsmagnat Carlos Slim, der ein Vermögen mit Mobiltelefonen gemacht hat sowie Vorsitzender und Geschäftsführer der Telekommunikationsunternehmen Telmex und América Móvil ist.

Joel Moskowitz von der University of California in Berkeley hat eine Übersicht erstellt: “Spin vs. Fact: National Toxicology Program on Cancer Risk from Cell Phone Radiation”. Er nennt die in der New York Times aufgeführten Behauptungen reine Meinungsmache („spin“) und stellt die wahren Fakten gegenüber.

In der Forschung wird die Studie differenzierter bewertet?

Ja, und sie wird in ihrer großen Bedeutung gewürdigt.

David Carpenter, der Direktor des Institute for Health and the Environment, ein Kooperationszentrum der Weltgesundheitsorganisation (WHO) an der University of Albany, sieht mit der Studie eine veränderte Sachlage gegeben und zahlreiche frühere Forschungen, die auf die Gesundheitsrisiken hinwiesen, bestätigt. Er weist darauf hin, dass NTP die Glaubwürdigkeit der US-Bundesregierung besitze und es für Leugner jetzt sehr schwer sein würde, die Gesundheitsrisiken weiterhin zu bestreiten.

Nachdem bei einer Überprüfung der NPT-Studienlage keine erwähnenswerten Fehler bei den Daten oder der Vorgehensweise festgestellt wurden, scheinen sich in den USA Verantwortliche bereits zur Umkehr entschlossen zu haben. Otis Brawley, medizinischer Direktor der American Cancer Society, merkte an, dass der NTP-Bericht, der die Mobilfunkstrahlung mit zwei Krebsarten in Zusammenhang bringe, einen Paradigmenwechsel in unserem Verständnis von Strahlung und Krebsrisiko markiere. Dies bedeutet in der American Cancer Society eine Kehrtwende, hatte sie doch lange Zeit das Risiko geleugnet.

Aber folgert man nicht zu schnell, sind solche Studienergebnisse überhaupt auf den Menschen übertragbar? Welche Aussagekraft können Tierversuche im Mobilfunk-Bereich haben?

Die Ergebnisse von Tierstudien können nicht direkt auf die menschliche Situation übertragen werden. Aber Tierstudien liefern Informationen darüber, ob die Gesundheit eines komplexen lebenden Organismus von der Mobilfunkstrahlung beeinträchtigt wird. Zur Beweisführung wird diese Information dann in Kombination mit den Ergebnissen aus epidemiologischen und in vitro Laborstudien dazu verwendet, das Risiko für die menschliche Gesundheit abzuschätzen. Die Kombination all dieser Elemente legt nun sehr nahe, dass Mobilfunkstrahlung die menschliche Gesundheit beeinträchtigt.

Denn drei epidemiologische Fall-Kontroll-Studien (Interphone, Hardells Gruppe, CERENAT) hatten bereits ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Gliomen bei Langzeitnutzern von Mobiltelefonen (30 min/Tag für 10+ Jahre) gezeigt. Bei der Interphone-Studie beispielsweise wurde ein Zusammenhang zwischen der Handynutzung und Gliomen festgestellt. Zell-Umhüllung von Nerven besteht aus Schwannzellen. Wenn die Schwannzellen derjenigen Nervenstränge, die das Innenohr mit dem Gehirn verbinden, von Tumoren betroffen sind, spricht man von Akustikusneurinomen. Ein Akustikusneurinom ist deshalb eine Art von Schwannom. Mindestens vier verschiedene epidemiologische Studien haben einen Zusammenhang zwischen der Handynutzung und Akustikusneurinomen festgestellt.

Epidemiologische Kohortenstudien wie die Dänische oder die Million-Women-Studie, die beide keine Hinweise auf Gefährdung publizierten, sind von so schlechter Qualität, dass sie nicht als verlässlicher Beweis für keine Wirkung angesehen werden.

Insgesamt besorgniserregend ist, dass Gehirntumore beim Menschen in mehreren Ländern zunehmen. Die Zunahme von Glioblastomen in den Niederlanden betrug von 1990 bis 2010 jährlich 3,1 Prozent, ohne dass die Hirntumorrate insgesamt anstieg. In Schweden stieg die Anzahl der Menschen, die wegen eines Hirntumors unbekannter Natur von 2008 bis 2013 verstarben, um 157 Prozent an. In den USA zeigte sich, dass sich Glioblastome vornehmlich in den Seitenlappen des Gehirns entwickelten, die der Mobilfunkstrahlung am stärksten ausgesetzt sind. Die aktuelle Auswertung der Krebsstatistik der USA dokumentiert signifikante Anstiege von Krebs bei Kindern und Jugendlichen. Die meisten Kinder und Jugendlichen sind inzwischen Smartphone-Dauernutzer.

Welche Konsequenzen ergeben sich aus der NTP-Studie und der internationalen Studienlage?

Selbst Christopher Portier, der ehemalige Leiter des NTP, gestand öffentlich ein, dass er als Experte angesichts der NTP-Ergebnisse besorgt sei. Die fortschrittliche wissenschaftliche Meinung ist, dass angesichts der extrem hohen Anzahl von Leuten, die mobile Kommunikationsgeräte nutzen, schon ein sehr geringer Anstieg der Krankheitsfälle aufgrund der von diesen Geräten ausgehenden Hochfrequenzstrahlung große Auswirkungen auf die allgemeine Gesundheit hätte.

Wir sollten in der Zusammenschau der aktuellen Studienlage in internationaler Hinsicht endlich eine angemessene Risiko-Einschätzung vornehmen. Ein gesundheitliches Risiko des Menschen ist demnach nicht nur möglich, wie von der WHO eingestuft, sondern wahrscheinlich. In der IARC-Klassifikation muss die Mobilfunkstrahlung von der bisherigen Gruppe „möglicherweise krebsverursachend (2B)“ in die Gruppe „wahrscheinlich krebsverursachend (2A)“ eingestuft werden.

Gerade für uns hier in Deutschland, wo die Grenzwerte völlig veraltet sind, kann es nur eine Empfehlung geben: Die Schlussfolgerung aus dem „wahrscheinlichen Gesundheitsrisiko“ ergibt zwingend den Ruf nach umfassender Umsetzung des Vorsorgeprinzips bei der Verwendung von Mobiltelefonen. Wer als Verantwortlicher im Gesundheitswesen die aktuellen Studienergebnisse und die sich daraus ergebenden potenziellen gesundheitsgefährdenden Konsequenzen kennt und dennoch die vollumfängliche Vorsorge hinauszögert, nimmt bewusst Gesundheitsschädigungen der Bevölkerung in Kauf.

Interview: Peter Ludwig, Saarbrücken, 6. Januar 2017

 

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